Das „Winter-Wunder“ 1946 im Wald von Ludorf

Am 25. August 1945 kam eine junge Mutter, Ella Steger geb. Guddat, mit vier Kindern, das jüngste Mädchen Renate, gerade mal drei Jahre alt, aus Ostpreussen nach Ludorf an die Müritz. Ein langer und beschwerlicher Leidensweg lag hinter ihnen auf der Flucht aus ihrem Heimatort Goldap in Ostpreussen nach Ludorf.

Die Einquartierung erfolgte in ein Zimmer bei Familie Huse in Ludorf. Die Großeltern waren bereits vor geraumer Zeit im Ort angekommen. Der Großvater, Franz Guddat, übernahm später die unbesetzte Dorfschmiede in Ludorf. Auch der Familienvater Fritz Steger traf wenig später aus der Gefangenschaft in Ludorf bei der Familie ein.

Der Winter 1945/46 war bitter kalt, mit viel Schnee und es gab kein Brennmaterial. Vater Fritz Steger war mit seinen Jungs in den angrenzenden Wald gegangen um Holz zu sammeln. Die Mutter brachte ihnen später etwas zu essen in den Wald. Oma Ida und Tante Hildegard sollten auf die kleine Schwester aufpassen, aber sie ist ihnen unbemerkt entwischt und den Eltern in den Wald gefolgt. Nachdem die Eltern mit den Jungs aus dem Wald nach Hause kamen wurden sie in großer Aufregung und mit Bestürzung von den Familienangehörigen empfangen. Nun begann die hektische und aufregende Suchaktion bis spät in die Nacht, aber ohne Erfolg, Renate blieb verschwunden.

Zu den dramatischen Ereignissen in Januar 1946 wurden von der Mutter, Ella Steger, nachfolgende Zeilen niedergeschrieben:

„Dann hatten wir am 5. Januar 1946 eine große Aufregung. Pappi ging mit unseren drei Jungs in den Wald um Holz zu machen. Meine Mutter und Hildegard passten auf Renate auf. Ich bin dann noch schnell in den Wald, Essen hinbringen. Als ich zurück kam war unser Kücken verschwunden. Alle sagten, sie war vor der Tür. Es wurde dunkel, Pappi und die Jungs kamen nach Hause. Das Kind war nicht da, Der Bürgermeister ließ die Glocke am Gutshaus läuten – alle Leute kamen. Die Ställe und in der Nacht die Felder wurden abgesucht. Es war so bitter kalt und alles gefroren. Wir hatten soviel durchgemacht und nun sollten wir auf die Art unser Kind verlieren. Am nächsten Tag wurde nicht gearbeitet, die Schule geschlossen und die Kinder zur Suche eingesetzt. Dann fanden mein Vater und Hildegard sie im Schilf vor dem Wald im Schnee liegen. Sie hatte uns gesucht und war danach eingeschlafen. Der Arzt wurde geholt und er sagte, wir wollen dem lieben Gott danken, dass das Kind lebt. Sie bekam nicht einmal Schnupfen oder Husten. Das ganze Dort brachte tagelang Milch, Kuchen, Schokolade und alles schöne Sachen.“

Die Hoffnung sank immer mehr, Renate wiederzufinden, dann vernahm Tante Hildegard ein leises Wimmern und Rufen – wie ein kleines Reh aus einer Schneemulde. Renate lag bis an den Kopf im Schnee und rief leise nach ihrer Mutter. Die Fundstelle war mit Gestrüpp und Schilf bewachsen und führte davor über einen Wassergraben mit einem Brett.

Nach Erzählungen der Retter war die Überquerung des Baches auf dem Brett die Rettung für Renate. Tante Hildegard brachte Renate auf den Armen liegend den Eltern und der Suchmannschaft entgegen – alle und besonders die Eltern – dachten mit Entsetzen daran sie wäre erfroren. Wie schon anfangs erwähnt lag viel Schnee und es war bitterkalt in dieser Nacht.

Vom Nachmittag bis zum anderen Morgen hatte Renate im tiefen Schnee im Winterwald verbracht und nach ihrer Mutter gerufen. Wie ein Wunder hatte Renate nicht einmal einen Schnupfen, denn nach dem erlösenden Wiederfinden schlief sie tief und lange im Bett in den Armen der glücklichen Mutter. Die Herzenswärme der Mutter ist die beste Medizin der Welt.

Diese Zeilen wurden niedergeschrieben in der Erinnerung an das Schicksal eines kleinen Mädchens und dessen Verbindung zur Glocke am Gutshaus in Ludorf.

15.08.2016 Renate Fritsche, heute wohnhaft in Erfurt